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Interview Kino

Visions du Réel 2025: Ohne Ukraine, Israel und Palästina in den Hauptwettbewerben – Wieso?

Heute Freitag, dem 4. April 2025, startet die 56. Ausgabe des «Visions du Réel». Das Festival in Nyon ist eines der bedeutendsten Dokumentarfilmfestivals weltweit.

Im Vorfeld habe ich mit Émilie Bujès, der künstlerischen Leiterin des Festivals, über die diesjährige Selektion, fünfstündige Filme und Moos gesprochen.

Die diesjährigen Ausgaben des Sundance Film Festivals und der Berlinale – beides Festivals mit bedeutenden Dokumentarfilmprogrammen – liegen im Rückspiegel. An beiden Festivals gab’s auch dieses Jahr wieder mehrere Filme über die Ukraine und den Nahostkonflikt zu sehen. In euren beiden Hauptwettbewerben fehlen diese Hot Topics. War das eine bewusste Entscheidung?

Émilie Bujès: Es ist nichts reingekommen.

Nun, wir arbeiten ja sowieso lieber nach Filmen als nach Themen. Also, natürlich sind wir immer froh, wenn wir mit unserer Auswahl irgendwie teilnehmen können an dem, was in der Welt gerade geschieht. Aber am wichtigsten an unserer Arbeit ist es, ein Programm zu machen, das uns filmisch überzeugt.

Und da gab es in diesem konkreten Fall einfach keine Filme, die in dieser Konstellation Sinn gemacht hätten. Sie sind woanders zu finden im Programm, aber tatsächlich nicht in unseren beiden Hauptwettbewerben.

An welchem Zeitpunkt bei der Auswahl eures Programms kommt die Frage Zu welchen Themen brauchen wir noch Filme? Oder passiert dieser Blick aufs Ganze gar nicht so oft wie man das als aussenstehende Person vielleicht meinen könnte?

Doch, das machen wir schon. Für uns ist es sehr wichtig, dass das Programm auch als Ganzes funktioniert. So versuchen wir beispielsweise zu vermeiden, dass es zwei Filme gibt, die über das exakt gleiche Thema sprechen. Und natürlich ist es für uns ebenso wichtig, eine formelle Vielfalt zu bieten.

Wir sagen aber nie Hey, wir vermissen einen Film über Migration, Wir vermissen einen Film über Demokratie oder irgendwas in diese Richtung.

Visions du Réel 2025: «La Montagne d’or» von Roland Edzard
«La Montagne d’or» von Roland Edzard

Das «Visions du Réel» bietet sich auch immer als gute Momentaufnahme an, um zu sehen, wo sich der Dokumentarfilm gerade befindet. Welche überraschenden Gemeinsamkeiten sind dir bei der Sichtung der diesjährigen Einsendungen aufgefallen?

Ich finde es immer ein bisschen schwierig, dies so allgemein zu betrachten, weil wir auch dieses Jahr wieder Tausende von Einsendungen hatten.

Aber ja, natürlich gibt es Themen, die immer wieder vorkommen: Familie, Migration, Demokratie, Kriege…

Dieses Jahr hatten wir zudem das Gefühl, dass wir mehr Filme sehen durften, die sich mit Wissenschaften beschäftigten. Filme, die ganz nahe an der Natur sind. Uns sind zum Beispiel unglaublich viele Shots von Bäumen und Moos begegnet. Wir haben uns wirklich irgendwann gefragt: Wie kann das sein, dass in jedem Film dieser eine Shot vorkommt?

Vielleicht spielt hier ja dieses Gefühl von Zurück zur Natur eine Rolle – aber das ist jetzt wirklich nur eine persönliche Interpretation von mir.

Wie sieht es umgekehrt aus: Gibt es brennende Themen, von denen du überrascht warst, dass sie unter den Einsendungen eher selten zu sehen waren?

Ich war schon ein bisschen überrascht, dass es dieses Jahr nicht mehr Filme aus der oder über die Ukraine gab.

Andererseits muss man auch sagen, dass viele Projekte, die bei uns gezeigt werden, im Durchschnitt fünf bis sechs Jahre vom Konzept bis zum finalen Film brauchen. Das heisst, dass jene Thematiken, die letztes oder dieses Jahr ganz brennend in der Welt sind oder waren, dann wahrscheinlich nächstes Jahr oder in zwei Jahren in unserem Programm zu sehen sein werden.

Visions du Réel 2025: «Iron Winter» von Kasimir Burgess
«Iron Winter» von Kasimir Burgess

Welche Filme aus der diesjährigen Selektion haben dich bei der Erstsichtung am meisten überrascht – sei es formell oder von Thema her?

«Les Voyageurs» aus Kamerun. Das ist ein Film, der integral von einem Migranten gemacht wurde, der im Film seine Reise von Marokko nach Spanien dokumentiert.

Meistens ist es bei solchen Projekten ja so, dass sie zwar von Migranten selbst gefilmt werden, am Ende dann aber irgendein Däne, Schweizer oder Whatever dazu kommt, der den Film dann ein bisschen schneidet und unterschreibt. Das ist hier nicht der Fall.

Auch «La Montagne d’or» ist ein sehr spannender Film. Das ist ein Film über Minenarbeiter. Diese Art von Filmen sehen wir eigentlich oft – und meistens spielen sie tatsächlich in Potosí, einer Mine in Bolivien – so wie auch «La Montagne d’or».

Hier ist es aber nun so, dass er aus einer Zusammenarbeit mit den Protagonisten selbst entstanden ist. Zum Teil spielen sie sogar ihre Geschichten nach, wodurch der Filmemacher eine unglaubliche Spannung aufbauen kann.

Filme, die am «Visions du Réel» uraufgeführt werden, können die unterschiedlichsten Reisen zurücklegen.

«Incident», zum Beispiel, feierte vor zwei Jahren in Nyon Weltpremiere und war soeben bei den Oscars nominiert. Bei welchen Filmen der diesjährigen Auswahl bist du am meisten über die Reise gespannt, die vor ihnen steht?

Ich bin da tatsächlich ein bisschen wie eine Mutter mit ihren Kindern: Ich hoffe natürlich, dass es bei allen Filmen irgendwie erfolgreich weitergeht.

Aber natürlich braucht das bei einigen Filme mehr Energie und Wille als bei anderen. Ich denke da zum Beispiel an «The Landscape and the Fury» aus dem letzten Jahr – für mich ein unglaublich fantastischer Film, bei dem ich aber auch davon ausging, dass das nicht alle so sehen werden, weil ich glaube, dass man hier ein bisschen Investment brauchte, um den Film richtig zu sehen. In diesem Fall bin ich wahnsinnig froh, dass der Film seit seiner Weltpremiere bei uns so einen riesigen Erfolg hatte.

Und auch dieses Jahr gibt es im Lineup viele Filme, von denen ich mir gut vorstellen kann, dass sie viel reisen werden. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass «Iron Winter» noch an vielen anderen, grösseren Festivals zu sehen sein wird.

Oder «The Vanishing Point» von Bani Khoshnoudi. Ein Film, der den Iran als Thema hat – ein politisch nach wie vor sehr brennendes Thema.

Im Lineup eures Festivals findet man jedes Jahr auch richtig lange Filme. Letztes Jahr war das beispielsweise Steve McQueens «Occupied City», dieses Jahr zeigt ihr den über fünfstündigen Film «My Undesirable Friends: Part I — Last Air in Moscow». Wie stehst du als künstlerische Leiterin solchen Werken gegenüber?

Wo sonst sollen diese Filme gezeigt werden, wenn nicht an Festivals? Dort, wo es den Raum und die Bereitschaft gibt – übrigens auch vom Publikum. Für mich ist es sehr wichtig, für genau solche Filme einen Raum zu schaffen.

Und wenn ich nun in die Haut des Publikums schlüpfe, dann finde ich solche Filme auch immer eine tolle Erfahrung – gerade auch, weil es so schwierig ist, solche langen Filme alleine zuhause zu schauen. Das braucht viel Energie, das wissen wir alle.

Stattdessen in einem dunklen Raum mit anderen Leuten zu sitzen, ohne Telefon – das ist eine Experience, die ich sehr mag. Auch die Person, die neben dir sitzt, atmen zu hören, zu merken, wie sie vielleicht sogar einschläft oder rausläuft, ist eine Erfahrung, die ich sehr mag.

Und meistens ist die Länge ja auch immer gerechtfertigt. «The Prince of Nanawa», ein anderer Film aus unserem Wettbewerb, ist dreieinhalb Stunden lang. Dieser Film ist aber über einen Zeitraum von zehn Jahren entstanden. Und da verstehe ich dann schon, dass es schwierig ist, zehn Jahre auf anderthalb Stunden zu kürzen. Man braucht diese Zeit einfach, um den Protagonisten zu begleiten und seiner Geschichte gerecht zu werden.

Das «Visions du Réel» zeigt bis zum 13. April 154 Filme aus 57 Ländern, davon 88 Weltpremieren. Ein Teil des Programms ist auch online im Stream verfügbar.
Visions du Réel 2025: «El príncipe de Nanawa» von Clarisa Navas
«El príncipe de Nanawa» von Clarisa Navas

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