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Neuer Berlinale-Wettbewerb «Perspectives»: Frischer Wind oder More of the Same?

Bye bye «Encounters», Hallo «Perspectives»! Als eine der ersten Amtshandlungen ihrer Ära, kippt die neue künstlerische Leitung der Berlinale den zweiten Wettbewerb aus dem Programm – und ersetzt ihn mit einer neuen Competition für Spielfilmdebüts. 14 Filme waren bei der ersten Ausgabe mit dabei, 6 davon könnte man im Auge behalten.

Das war ein kurzer Spass! 2020 rief Carlo Chatrian den «Encounters»-Wettbewerb als neuen, zweitwichtigsten Berlinale-Wettbewerb ins Leben: ein Quasi-Pendant zu den Sektionen «Un Certain Regard» (Cannes) und «Orrizonti» (Venedig). Fünf Jahre später ist er bereits wieder Geschichte.

Nur wenige Filme, die während den fünf Jahren «Encounters» zu diesem Wettbewerb eingeladen wurden, entwickelten nach dem Festival ein Eigenleben. Und weil Tricia Tuttle, die neue künstlerische Leitung der Berlinale, befand, dass einige der dort gezeigten Filme auch «im Forum hätten laufen können»1Tricia Tuttle im Interview mit dem RBB am 12.02.2025, ist es durchaus nachvollziehbar, dass sie ab sofort auf diesen Wettbewerb verzichtet.

Als Ersatz wurde für die 75. Berlinale darum ein brandneuer, zweiter Wettbewerb ins Leben gerufen: «Perspectives». Insgesamt 14 Spielfilmdebüts wurden eingeladen.

Nach der ersten Ausgabe dieses Wettbewerbs – ich durfte alle Filme sehen – darf man bilanzieren: So weit weg von «Encounters» ist diese neue Sektion gar nicht! Vor allem weil – und das darf sich das Programmteam gerne zu Herzen nehmen – die Schere der eingeladenen Filme doch sehr weit auseinanderragt.

Auf der einen Seite sehr kompetente Filme mit einer klar erkennbaren Handschrift von neuen Stimmen, deren weitere Werke man sich gerne ansehen wird. Auf der anderen Seite Filme, von denen man das Gefühl hat, sie werden hier nur gezeigt, weil sie vom «World Cinema Fund» co-finanziert wurden und man irgendjemandem einen Gefallen schuldet.

Aber: Weil 2025 ein Year of Positivity ist, möchte ich mich jetzt weniger auf die negative Seite konzentrieren und viel lieber sechs Filme hervorheben, die im ersten «Perspectives»-Jahr zu überzeugen wussten.

Berlinale 2025 – Highlight Perspectives:  Le rendez-vous de l’été
© 2024 Comme des Cinemas – Cinq de Trefle Productions

«Le rendez-vous de l’été» (dir. Valentine Cadic)

Der mit Abstand beste Film dieses Wettbewerbs. Die 30-jährige Blandine – sie als exzentrisch zu bezeichnen wäre wohl nicht ganz falsch – reist im Sommer 2024 für mehrere Tage nach Paris, um dort die Schwimmwettbewerbe der Olympischen Spiele zu verfolgen. Ihrer in Paris wohnenden Stiefschwester, welche sie seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hat, könnte man dabei ja ebenfalls einen Besuch abstatten.

Feinfühlig erzählt, detailverliebt und ausgestattet mit beeindruckend natürlich klingenden Dialogen, mit denen sich besonders Blandine Madec (noch nie vorher gesehen) und die immer hervorragende India Hair (zuletzt u. a. in Ursula Meiers «La ligne») auszeichnen dürfen.

Ein sehr gelungener Debütfilm, der von seiner Anmutung her auch der ungefähr achte Film einer bereits etablierten regieführenden Person sein könnte, die nach mehreren grösseren Projekten zur Abwechslung etwas kleineres versucht. Aber ich habe nachgeschaut: Es ist wirklich ein Debütfilm.

Für einen offiziellen Release in der Schweiz dürfte das wohl nicht reichen – dafür ist der Film dann doch etwas zu klein – aber vielleicht sehen wir ihn ja nächstes Jahr in der Auswahl des «MyFrenchFilmFestivals»?

Berlinale 2025 – Highlight Perspectives: Mad Bills to Pay (or Destiny, dile que no soy malo)

«Mad Bills to Pay (or Destiny, dile que no soy malo)» (dir. Joel Alfonso Vargas)

«BLKNWS: Terms & Conditions» (dir. Kahlil Joseph)

Zwei Filme, die eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben, ausser dass sie vor gut einem Monat am «Sundance Film Festival» fast gleichzeitig Weltpremiere feierten – beide übrigens in der für experimentellere Filme ausgelegten «Next»-Kategorie. (Erwähne ich darum, weil ich finde, dass in Zukunft gerne mehr solcher Werke in diesem neuen Berlinale-Wettbewerb Platz finden dürften. Es müssen ja nicht immer Weltpremieren sein!)

«BLKNWS: Terms & Conditions» ist ein Essayfilm von Videokünstler Kahlil Joseph, der zuvor mehrere Beyoncé-Musikvideos realisieren durfte. Mit der «Encyclopedia Africana» als roten Faden beleuchtet er verschiedene Aspekte der panafrikanischen Diaspora der letzten 100 Jahre.

Wie immer bei dieser Art von Essayfilmen gilt: Findet man die richtige Wellenlänge, funktioniert er – auch wenn viele der zum Teil haarsträubenden Querverweise, die Joseph hier macht, nur dank den schnell geschnittenen Bildern und den pumpenden Bässen im Soundtrack glücken.

Viel Drama gab’s auch hinter den Kulissen. Kurz vor der «Sundance»-Weltpremiere wurde der Film auf Verlangen der Geldgeber:innen aus dem Programm gestrichen (ebenso seine Berlinale-Screenings), ein paar Tage später folgte der Rückzieher vom Rückzieher.

Viel gemächlicher geht es in «Mad Bills to Pay (or Destiny, dile que no soy malo)» zu und her, dem Spielfilmdebüt von Joel Alfonso Vargas, der erst gerade letzten Sommer für die Weltpremiere seines Kurzfilms «Que te vaya bonito, Rico» in Locarno zu Gast war.

Vargas ist in der Bronx aufgewachsen, seine Familie stammt aus der Dominikanischen Republik. Genau diese Strukturen findet man auch in seinem sehr relaxten Debüt wieder, in welchem sein junger Protagonist Rico Hals über Kopf ins Erwachsenenleben geworfen wird, nachdem seine 17-jährige Freundin – more like Bekannte – Destiny schwanger wird.

«Mad Bills…» macht das absolut Meiste aus seinem sehr minimalen Budget und überzeugt neben realistischen Dialogen auch durch die wunderschönen Bilder von Kameraperson Rufai Ajala.

Berlinale 2025 – Highlight Perspectives: Little Trouble Girls
© SPOK Films

«Kaj ti je deklica» a.k.a. «Little Trouble Girls» (dir. Urška Djukić)

Ein klassischer queerer Coming-of-Age-Film einer slowenischen Regisseurin, in welchem die junge Lucija (Jara Sofija Ostan) im Chorlager Gefühle für die aufmüpfige Ana-Marija (Mina Švajger, grosse Entdeckung!) entwickelt.

Schön erzählt, tolle Bildsprache, krankt jedoch an etwas, an dem viele europäische Arthouse-Debüts dieser Art kranken: das Fundament ist das richtige, die ersten beiden Akte sind von Anfang bis Ende durchdacht… und dann plätschert der Film plötzlich aus… ohne je zu einem richtigen Ende zu kommen.

Berlinale 2025 – Highlight Perspectives: Mit der Faust in die Welt schlagen
© Flare Film / Chromosom Film

«Mit der Faust in die Welt schlagen» (dir. Constanze Klaue)

Constanze Klaues Debüt (der mit grossem Abstand bessere der beiden Deutschen «Perspectives»-Beiträge) ist ein intensives Sozialdrama über eine ostdeutsche Familie, die mit Arbeitslosigkeit, Alkoholismus und der allgegenwärtigen Gefahr des Rechtsextremismus kämpft. Der Film spielt in Sachsen – Stichwort Sozialer Brennpunkt!! – und die Angst vor dem finanziellen und sozialen Abstieg scheint hier zum Alltag zu gehören.

Klaues Figuren sind glaubwürdig, das Drehbuch durchdacht und insgesamt wirkt der Film weitaus kompletter als viele andere Wettbewerbsbeiträge. Trotzdem ist unübersehbar, dass sich der Film von der ersten Sekunde an nie ganz sicher ist, wie fest er uns Zusehenden vertrauen möchte. Wann ist Subtilität angebracht, wann Klarheit nötig? Diese Gratwanderung ist doch sehr spürbar und manchmal etwas überdeutlich.

Am Ende bleibt der Eindruck eines gut erzählten Films, der in seiner Botschaft jedoch wenig Spielraum für Interpretationen lässt. Die Aussage Schaut, darum wählen Menschen im Osten AfD! schwingt bei jedem Frame mit. Das hätten wir auch ohne konstantes Betonen verstanden.

Berlinale 2025 – Highlight Perspectives: On vous croit
© Makintosh Films

«On vous croit» (dir. Arnaud Dufeys & Charlotte Devillers)

Ein belgisches Gerichtsdrama, das sich ganz klassisch ins Genre einfügt. Der Film erzählt die Geschichte einer Mutter, die vor Gericht dafür kämpft, dem Vater das Besuchsrecht für die gemeinsamen Kinder zu entziehen – ihr Sohn wirft ihm Vergewaltigung vor, der Vater bestreitet die Vorwürfe.

Hier werden viele Monologe direkt in die Kamera gesprochen, die Emotionen der Figuren sind intensiv spürbar. Die Schauspieler:innen verkörpern ihre Rollen mit einer solchen Intensität, dass man sich fast wie in einer echten Verhandlung fühlt. Die Regie ist durchdacht und sehr realitätsnah – vielleicht sogar etwas zu sehr, was den Film streckenweise fast steril wirken lässt.

Was «On vous croit» fehlt ist ein Spannungsmoment. Schon der Titel legt die Richtung fest, und die Schwere der Vorwürfe macht es unmöglich, auch nur einen Moment mit dem Vater zu sympathisieren. Dadurch fehlt dem Film eine ambivalente Ebene, die ihn noch packender machen könnte.

Trotzdem ein stark gespieltes, emotional aufgeladenes Drama – nur eben ohne echte Ungewissheit.

Mehr Eindrücke von der Berlinale 2025 gibt’s drüben bei Letterboxd.

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