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Cannes 2025 jenseits des Wettbewerbs: 7 to Watch

Auch dieses Jahr konkurrierten auf der Croisette wieder 22 Filme um die Goldene Palme. Was dort alles geschah und ob Jafar Panahis «Un simple accident» den Hauptpreis beim nach wie vor prestigeträchtigsten Filmfestival der Welt wirklich verdient hat, darüber wurde schon ausreichend geschrieben. Aber was lief eigentlich daneben?
Ich habe mich durch die Nebensektionen geschaut – «Un Certain Regard», «Semaine de la Critique», «Quinzaine des Cinéastes» – und sieben Favoriten gesammelt. Alle davon noch ohne Schweizer Verleih, aber unbedingt im Blick zu behalten.

«Imago»
(dir. Déni Oumar Pitsaev)

Der beste Film aus den vielen Beiträgen der Nebensektionen, die ich visionieren durfte, wurde erfreulicherweise gleich doppelt ausgezeichnet: mit dem Jurypreis der «Semaine de la Critique» und – viel entscheidender – mit dem wettbewerbsübergreifenden Goldenen Auge (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Preis des ZFF!) für den besten Dokumentarfilm des gesamten Festivals. Beides zurecht.

Regisseur Déni Oumar Pitsaev richtet den Blick auf seine Heimat nahe der georgisch-tschetschenischen Grenze. Aufgewachsen ist er nicht dort – nun hat ihm aber seine Mutter ein Stück Land gekauft, in der Hoffnung, ihn so zurückzuholen. Pitsaev will dort ein Haus bauen. Vielleicht.

Tatsächlich ist «Imago» aber vor allem ein Film über den Regisseur selbst – und das brüchige Verhältnis zu seinem Vater, der die Familie früh verlassen und inzwischen eine neue gegründet hat.

Kein einfacher Film, kein Crowdpleaser, kein zukünftiger Kassenschlager. Aber Pitsaev gelingt es, zwei Gespräche einzufangen, die haften bleiben: eines zwischen Frauen im Dorf über ihre Wertvorstellungen, das andere eine stille, schmerzhafte Konfrontation mit seinem Vater. Und das alles – für eine Doku – in sehr eindrucksvollen Bildern, die trotzdem nie ins artifiziell Kunstvolle abdriften.

Noch kein Schweizer Verleih.

«Love Me Tender»
(dir. Anna Cazenave Cambet)

Cannes 2025 jenseits des Wettbewerbs: 7 to Watch – «Love Me Tender» gehört dazu.

Verwickelt in einen komplizierten und vor allem unfairen Sorgerechtsstreit: Antoine Reinartz (in bester Erinnerung als unsympathischer Anwalt aus «Anatomie d’une chute»), der das you-love-to-hate-him Arschloch mit voller Hingabe spielt, und Vicky Krieps («Phantom Thread», «Corsage»), welche gefühlt die Hälfte des Films leicht- oder ganz unbekleidet verbringt.

Alles schon mal da gewesen im Cannes-Line-up – und doch trifft dieser Blick auf ein Rechtssystem, das queere Elternteile benachteiligt, mit voller Wucht ins Schwarze. Hervorragend gespielt, fein beobachtet, sehr nuanciert.

Noch kein Schweizer Verleih.

«A Useful Ghost»
(dir. Ratchapoom Boonbunchachoke)

Eine Geistergeschichte, wie man sie selten – oder vielleicht noch nie – gesehen hat: Marchs Verlobte ist gerade erst gestorben, nun kehrt sie zurück. Als Staubsauger. Eine ganz neue Definition von Ghost in the Machine.

Dieser thailändische Beitrag, der mit dem Hauptpreis der «Semaine de la Critique» ausgezeichnet wurde, nimmt gegen Ende eine vielleicht etwas unglückliche Abzweigung – aber alles, das davor passiert, ist urkomisch, skurril und stellenweise sogar ein wenig unheimlich.

Niemand regiert hier auf das Übernatürliche so, wie man es erwarten würde: Kein Terror, keine Neugier. Mehr so: Ah, die Geister der Verstorbenen bewohnen jetzt unsere Haushaltsgeräte? Okay. Und sonst so? Oder eben: Bizarr im allerbesten Sinne – fast so, wie man es sonst nur aus dem dänischen Kino kennt.

Noch kein Schweizer Verleih.

«Nino»
(dir. «Pauline Loquès»)

Eine Routineuntersuchung beim Arzt. Dann die Diagnose: Kehlkopfkrebs. Heilungschancen? Intakt. Aber Chemo- und Strahlentherapie müssen bereits am Montag beginnen. Nino steht plötzlich vor der Frage: Alles wegwerfen und leben, als würde es keine Rolle mehr spielen – oder sich zum ersten Mal seit Langem auf eine echte Verbindung einlassen?

«Nino» erzählt, verdichtet auf ein einziges Wochenende, von allen fünf Phasen der Trauer – und wie sie sich ineinander verschieben oder sich überlagern. Hier erhält das tendenziell auserzählte Genre des Krebsfilms einen frischen Spin.

Noch kein Schweizer Verleih.

«Wild Foxes»
(dir. Valéry Carnoy)

Kaum hat Samuel Kircher einer älteren Frau den Kopf verdreht («L’été dernier», Cannes 2023), taucht er dieses Jahr gleich zweimal in der Cannes-Selektion auf: in «L’engloutie» (siehe weiter unten!), oder hier als Box-Protégé am Sport-Gymi, der alles auf eine Karte setzt… bis ihn eine Verletzung ausbremst.

Junge Menschen, die ihr Leben lang nur ein Ziel hatten – und plötzlich zum ersten Mal mit der Möglichkeit konfrontiert werden, dass dieses Ziel vielleicht nie erreichbar sein wird: das ist kein neues Narrativ. Aber «Wild Foxes» landet trotzdem seine Punches (hehe), weil Valéry Carnoy seine Geschichte um ein energiegeladenes Ensemble herum inszeniert, das von sympathischem Chaos lebt und jederzeit zu explodieren droht.

Ob es die Metapher mit den Füchsen wirklich gebraucht hätte? Fraglich. Aber mit diesen Jungs steigt man gerne in den Ring. (Okay, genug mit den Box-Metaphern.)

Noch kein Schweizer Verleih.

«Les filles désir»
(dir. Prïncia Car)

Cannes 2025 jenseits des Wettbewerbs: 7 to Watch – «Les filles désir» gehört dazu.

Ein weiterer Debütfilm aus der «Quinzaine des Cinéastes» – einer Sektion, die zwar als Plattform für Neuentdeckungen gilt, aber auch Premieren von etablierten Namen wie Christian Petzold (warum eigentlich nicht im Wettbewerb?) oder Nadav Lapid zeigte.

«Les filles désir» lässt sich – im besten Sinne – der Kategorie der Vibes-Filme zuordnen.

Ja, es gibt eine Handlung: Eine Gruppe junger Erwachsener in Marseille wird durch die überraschende Rückkehr einer Person aus der Vergangenheit aus der Balance gebracht. Aber eigentlich soll das hier vor allem ein cineastischer Kurzurlaub sein – ein 90-minütiger Abstecher an die französische Südküste.

Prïncia Car weiss zwar genau, welche Geschichte sie erzählen möchte und wo sie hin will, nimmt erzähltechnisch aber einige Abkürzungen. Fast so, als würde jemand das Alphabet korrekt kennen, sich dann aber mit A-B-C-Y-Z begnügen.

Trotzdem: Die Performances wirken glaubwürdig, die Dialoge sind authentisch, das Finale hat etwas Kathartisches – und die Bilder? Très chic. C’est Marseille, bébé.

Noch kein Schweizer Verleih.

«L’engloutie»
(dir. Louise Hémon)

Cannes 2025 jenseits des Wettbewerbs: 7 to Watch – «L'engloutie» gehört dazu.

Auf visueller Ebene hat sich Louise Hémon für ihr Langfilmdebüt deutlich mehr überlegt als jene Person, die für den englischen Titel zuständig war: «The Girl in the Snow». Ja, stimmt – aber da wäre definitiv mehr drin gelegen.

Und auch Hémon knüpft an einen Faden, der in letzter Zeit öfter gesponnen wurde: Eine junge Frau wird um die Jahrhundertwende in die Berge geschickt, trifft dort auf misstrauische Dorfbewohner – und auf ihr eigenes sexuelles Erwachen.

«Vermiglio» (Venedig 2024) und «Foudre» (Carmen Jacuiers Schweizer Oscarbeitrag von 2023) hatten wir erst gerade. Aber Hémon setzt ganz auf ihre Bildsprache: Innenräume, getränkt in flackerndes Kerzenlicht, wechseln sich ab mit glitzernden Schneelandschaften, so kontrastreich, dass man kurz das Gefühl hat, an Schneeblindheit zu erkranken. Grossartiges Ende auch.

Noch kein Schweizer Verleih.

Mehr? Wie immer gibt’s alle Reviews drüben auf Letterboxd.

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