Das 17. Zurich Film Festival ist Geschichte – und sorgte auch dieses Jahr wieder dafür, dass wir zu den allerersten gehörten, die ausgewählte Kino- und Streaming-Highlights zu sehen bekamen. ZFF 2021: die besten Filme – hier gibt’s die Liste meiner Favoriten.
Dass die grossen Oscar-Player im Vergleich zu den vergangenen Jahren an Zürich vorbeiziehen, war spätestens nach der Programmverkündigung klar. Von «House of Gucci», «Licorice Pizza», «Nightmare Alley» und «West Side Story» wussten wir, dass sie die Festivalsaison ganz umgehen werden. Und für «Belfast», «C’mon C’mon» und «King Richard» hatte es keinen Platz im diesjährigen Line-up.
Trotzdem: Gutes Festival, viele Highlights. So wie jedes Jahr. Mein ganzes Ranking mit allen 42 Filmen, die ich im Rahmen des Zurich Film Festival 2021 gesehen habe, gibt’s – as always – auf Letterboxd.
Hier jetzt mal die Top 5, ohne spezifische Reihenfolge:
«Flee» (dir. Jonas Poher Rasmussen)
In den 90er-Jahren hat sich Jonas Poher Rasmussen mit Amin angefreundet. Amin war damals ein queerer Junge, der soeben von Afghanistan über Russland nach Dänemark geflüchtet ist.
Lange wollte Amin nie wieder über dieses düstere Kapitel seines Lebens sprechen, bis er schliesslich doch noch jemandem seine Geschichte anvertrauen wollte.
Bildmaterial dieser Interviews verwendet Rasmussen keines, er belässt es beim Tonmaterial – stattdessen wird die ganze Geschichte unter der sicheren Hand von Kenneth Ladekjær mit passenden Bildern illustriert.
«Flee» ist ein Dokumentarfilm der unter die Haut geht. Nicht nur wegen seiner Machart, die von den emotionalen Gesprächen zwischen Amin und Jonas getragen wird, sondern natürlich auch, weil sich die Geschichte von Amin abseits der Kameras zurzeit wiederholt. Und wiederholt. Und wiederholt. Ein wichtiger Film.
Kinostart Deutschschweiz: tba
«The Last Duel» (dir. Ridley Scott)
mit: Ben Affleck, Matt Damon, Adam Driver, Jodie Comer u. a.
Die vielleicht grösste Überraschung des Festivals. «The Last Duel», einer von zwei (!) Filmen, den der mittlerweile 83-jährige (!) Ridley Scott während (?!?!?) der Pandemie abgedreht hat («House of Gucci» mit Lady Gaga erscheint dann im November), klingt auf Papier wenig vielversprechend: Zwei störrische Ritter duellieren sich, weil der eine die Frau des anderen vergewaltigt haben soll. 1998 hat angerufen und möchte seinen Plot zurück.
Aber – ich sage es gerne noch einmal: der 83-jährige – Ridley Scott wäre ja nicht – again: der 83-jährige – Ridley Scott, wenn er die Geschichte nicht ein bisschen unkonventionell erzählen würde: Ganz «Rashomon»-like gibt’s die Story nämlich aus drei verschiedenen Blinkwinkeln (Zuerst Damon, dann Driver, dann Comer), jedes Mal kommt man der Wahrheit ein kleines bisschen näher.
Die Version von Comers Figur kommt ganz zum Schluss, wurde von Nicole Holofcener (!) gescriptet und gibt dann relativ eindeutig Antwort auf die Frage, ob und warum man im Jahr 2021 eine Vergewaltigungsgeschichte aus drei verschiedenen Perspektiven sehen möchte.
Kinostart Deutschschweiz: 14.10.2021
«The Lost Daughter» (dir. Maggie Gyllenhaal)
mit: Olivia Colman, Jessie Buckley, Dakota Johnson, Peter Sarsgaard, Paul Mescal («Normal People»), Ed Harris u. a.
Mit der Familie ins Kino gehen. Und damit meine ich nicht mit den Kids, sondern mit Mami, Papi oder anderen Verwandten. Kann man das denn überhaupt noch? Wohl eher nicht zu «Venom: Let There Be Carnage». Oder dem Snyder Cut von «Justice League». Aber dafür zu «The Lost Daughter» – wenn der Film dann überhaupt ins Kino kommt, und nicht einfach nur auf Netflix gezeigt wird.
«The Lost Daughter» ist some real-ass Grown-up-Entertainment. Eine Buchverfilmung (Elena Ferrante) über eine Professorin mittleren Alters, die eigentlich ungestört Ferien auf einer Insel in Griechenland machen möchte… dort dann aber in den Kontakt mit einer zweifelnden Mutter kommt, welche wiederum unangenehme Erinnerungen aus der eigenen Vergangenheit triggert.
Es sind ein paar saftige – if you want: vegane – Steaks, die Maggie Gyllenhaal ihrem Ensemble vorsetzt – und alle beissen kräftig rein. Olivia Colman zeigt sich von ihrer schnippischen, «Ich bin ja so over it»-Seite wie nur sie es kann, und auch sonst gibt Gyllenhaal – wie so oft, wenn ein:e Schauspieler:in auf dem Regiestuhl hockt – ihren Stars viele Möglichkeiten zu brillieren.
Wer im Sommer gerne Bücher am Flughafen kauft, die man am Strand kaum aus der Hand legen kann, bekommt hier endlich auch ein bisschen Entertainment für den Winter.
Ab dem 31.12.2021 auf Netflix.
«The Power of the Dog» (dir. Jane Campion)
mit: Kirsten Dunst, Benedict Cumberbatch, Jesse Plemons («Breaking Bad», «Fargo») u. v. a.
Ahhhh. Jane Campion! We missed you!
Die erst zweite Frau überhaupt, die ihrer Zeit bei den Oscars zu den Nominierten für den Regie-Preis gehörte, meldet sich nach 12 Jahren Grosse-Leinwand-Abs(tin)enz (und einem kurzen Abstecher in die TV-Welt, «Top of the Lake») zurück – mit einem absoluten Banger.
Ein Neo-Western mit einer fantastischen Besetzung – Benedict Cumberbatch endlich mal wieder nicht in «Bitte, bitte gebt mir einen Oscar»-Modus («The Courier», «The Current War», «The Mauritanian»), sondern als First-Class-Asshole – und vielen überraschenden Wendungen.
Ich verstehe zwar nach wie vor nicht, wieso Netflix jedes Jahr diesen grossen Prestige-Objekten, die eigentlich nur in einem dunklen Raum, auf einer grossen Leinwand, mit dem Handy fest verschlossen in einer Tasche funktionieren («Roma», «Mank», you name it), grünes Licht erteilt, welche dann 99% der Zusehenden unter nicht-optimalen Umständen zu sehen bekommen. Aber ich bin dem ZFF natürlich äusserst dankbar, dass wir wenigstens eine Möglichkeit bekommen, die Filme nicht auf einem Handy in einem wackelnden Bus sehen zu müssen.
Kinostart Deutschschweiz: 18.11.2021
Ab dem 1.12.2021 auf Netflix.
«The Worst Person in the World» (dir. Joachim Trier)
Oben steht «ohne spezifische Reihenfolge», aber let’s be honest: Das hier war mein Lieblingsfilm am diesjährigen Festival. Nein, mein ZFF-Lieblingsfilm seit 2017 («Call Me By Your Name»)?
Dieser Film erzählt vier Jahre aus dem Leben von Julie. Eine junge Frau, die mal impulsiv das Studium wechselt (eigentlich wollte sie ja schon immer Fotografieren!!!) und sowieso nicht ganz verstehen kann, warum man im Alter von 30 Jahren schon den Rest seines Leben kennen und verplant haben muss.
Regisseur Joachim Trier, der zuletzt zwei eher wenig gute Filme gemacht hat, komplettiert mit dieser Geschichte seine «Oslo-Trilogie» (die anderen beiden Filme: «Reprise» und «Oslo, August 31st» sind ebenfalls äusserst empfehlenswert), und macht dies mit unglaublich scharfen Beobachtungen, die in Nebensätzen oder mit einzelnen Blicken mehr erzählen, als andere in einem ganzen Film oder Buch. Wunderbar.
Kinostart Deutschschweiz: TBA (Hat wenigstens bereits einen Verleiher.)
Honorable Mentions:
Auch gut: Joanna Hoggs Arthouse-Sequel «The Souvenir: Part II», Pablo Larraíns verrückter Diana-Film «Spencer», den alle Fans von «The Crown» verabscheuen werden, Zora Rux› faszinierendes Debütwerk «Ich Ich Ich», sowie Sean Bakers «Red Rocket» inklusive der wohl besten schauspielerischen Performance des Jahres.