Der obligate Rückblick auf das Serienjahr. Die 10 besten Serien 2024 oder: Welcome to the Dark Age of TV.
«Haben wir einen Tiefpunkt erreicht?» habe ich an dieser Stelle vor exakt einem Jahr gefragt. Well, turns out, we didn’t.
Denn: die letzten 12 Monate waren serientechnisch noch um einiges weniger überzeugend als alles was zuvor kam. Ja, da sind die zahlreichen Streiks vom letzten Jahr natürlich nicht ganz unschuldig, welche die Produktion zahlreicher Projekte verzögerten und deren Start ins Jahr 2025 verschieben liessen.
Trotzdem würde ich die Streamingplattformen selbst als Hauptschuldige identifizieren. Kaum mehr mutige Projekte erhalten ein Grünes Licht, stattdessen konzentriert man sich darauf, seine IP (Intellectual Property) und Marken mit halbgaren Se-, Side- und Prequels wieder und wieder aufzuwärmen.
Anstatt «Fleabag» oder «I May Destroy You» wird die Kohle lieber in eine Vorgeschichte zu den «Dune»-Filmen gesteckt, nach der niemand gefragt hat, in die Überbrückung zwischen «The Batman» und «The Batman – Part II», oder in die fünfhundertste «Star Wars»-Serie, bei welcher noch vor Drehbeginn vier Mal die showrunnende Person ausgetauscht wird.
Oder vielleicht ist es auch einfach ein Me-Problem. Irgendwie beschwere ich mich jetzt doch schon seit mehreren Jahren darüber, dass das Serienjahr hätte besser sein können. Am I falling out of love with the medium? Falls das hier meine allerletzte Serienliste wird, können wir in 12 Monaten sagen: I did.
Bis dann gibt’s die Bestenliste über das Serienjahr 2024, die ähnlich kurz ausfällt wie letztes Jahr. Vorbei die Zeiten, in denen ich diese Listen nur mit erheblichem Aufwand auf unter 20 Einträge reduzieren konnte. I not so proudly present: Die 10 besten Serien 2024:
#10
«Disclaimer»
Kurz nachdem die gefeierte Dokumentarfilmerin Catherine Ravenscroft (Cate Blanchett) einen weiteren Preis erhält, landet ein im Eigenverlag veröffentlichter Roman auf ihrer Türschwelle. In diesem Roman wird eine Geschichte erzählt, die mit einem Todesfall endet. Catherine kennt diese Geschichte. Sie selbst übernahm darin vor etwa 20 Jahren die Hauptrolle.
Alfonso Cuarón, einer der weltbesten Regisseure («Y tu mamá también», «Children of Men», «Roma», «Harry Potter and the Prisoner of Azkaban», «Gravity») meldet sich nach einer sechsjährigen Abwesenheit zurück – zum ersten Mal abseits der grossen Leinwand. Dass er dafür einen Roman adaptiert, den man von seinem Inhalt her mit dem hintersten Regal eines Flughafen-Kiosks assoziieren würde, irritiert.
Auch irritieren viele Entscheidungen, welche die einzelnen Figuren dieser Geschichte während den ersten sechs Episoden treffen.
Bis in der siebten und letzten Episode plötzlich vieles auf den Kopf gestellt wird – und wir Zusehenden in eine existenzielle Krise gestürzt werden. Warum haben wir alles, das in den ersten sechs Teilen dieser durchgängig grossartig ausschauenden Serie (Kamera von Emmanuel Lubezki und Bruno Delbonnel!) ohne Gegenfrage hingenommen? Auf was sind unsere Vorurteile zurückzuführen?
Man kann Cuarón durchaus vorwerfen, dass er hier eigentlich gar keine Serie gemacht und stattdessen einen langen Film in sieben Teile zerhackt hat. Nur wer bis zum Ende dranbleibt, wird belohnt.
Streamen auf Apple TV+.
#9
«Big Boys», Season 2
Jack (Dylan Llewellyn) geht an die Uni (bitte Englisch aussprechen). Er ist ein 19-jähriges Mauerblümchen, trauert seinem verstorbenen Vater nach und ist denkbar ungeeignet für und unvorbereitet auf das veränderte soziale Umfeld, welches er an seinem neuen Lebensmittelpunkt gleich antreffen wird.
Gottseidank gibt es seinen neuen Roomie Danny (Jon Pointing) – das komplette Gegenteil von Jack – der seinen Mitbewohner alles andere als sorgfältig an seine neuen Lebensumstände heranführt.
Eine semi-autobiographische britische Comedyserie mit viel Herz und Witz, welche dieses Jahr in eine sehr erfolgreiche zweite Runde ging. Mit der dritten Staffel, die im dritten und letzten Uni-Year spielen wird, soll die Serie nächstes Jahr dann ihren Abschluss finden. (Danke für den Tipp, Sam!)
Streamen mit vpn auf Channel 4. Series 3 ist in Produktion.
#8
«English Teacher», Season 1
Remember klassische Comedyserien? Also eben nicht jene Serien, die zwar halbstündige Episoden produzieren, aber trotzdem ganz ernste Geschichten erzählen. Wie sich ein Opfer von sexuellem Missbrauch versucht, an ihren Täter zu erinnern, zum Beispiel. Oder die Serie über den Koch, der in einem hektischen Arbeitsumfeld versucht, das vom Konkurs bedrohte Restaurant seines verstorbenen Bruders über Wasser zu halten. Die Gleichung Halbstündige Serie = Comedy gilt schon lange nicht mehr.
Aber keine Regel ohne Ausnahme. Darf ich vorstellen: «English Teacher», die nächste klassische, halbstündige Comedyserie im Stil von «The Office», «Parks and Recreation» oder «Abbott Elementary».
Alle Zutaten des uralten Rezepts sind die richtigen: Ein immergleicher Schauplatz, an welchem sich möglichst viele Menschen aufhalten (hier wäre es eine High School), eine Gruppe guter und unterschiedlicher Figuren mit denen man gerne Zeit verbringt (das reicht hier vom titelgebenden Englischlehrer, über seine beste Freundin – ebenfalls Lehrperson – bis zum immer zerstreuten Schulpsychologen) und ein paar buzzy Themenfelder (LGBT! Drag Queens!), die man humorvoll angehen kann, ohne sich je darüber lustig zu machen.
Streamen auf Disney+.
#7
«Criminal Record», Season 1
Zwei Ermittler:innen – der abgeklärte Veteran (Peter Capaldi) und das idealistische Greenhorn (Cush Jumbo) – spannen zusammen um einen Mordfall in London zu lösen. Und plötzlich finden sie sich inmitten eines weitreichenden Netzes aus Polizeikorruption und Machtmissbrauch wieder: Fertig ist das A und O des bodenständigen Krimis.
Vor etwa 15 Jahren produzierte die BBC genau solche unkomplizierten, geradlinigen Krimis am Laufmeter. Mittlerweile ist das Talent zu Apple abgewandert. Macht solche Serien jedoch nicht schlechter.
Streamen auf Apple TV+. Season 2 ist in Produktion.
#6
«Shōgun», Season 1
Auch die zweite «Shōgun»-Verfilmung beginnt mit John Blackthorne (Cosmo Jarvis), einem englischen Seemann, der mit seinem Schiff an der japanischen Küste aufläuft. Im Gegensatz zur Miniserie von 1980 ist Blackthorne bei den politischen Scharmützeln zwischen mehrerer Fürsten im Japan des 17. Jahrhunderts dieses Mal jedoch maximal Nebenakteur.
Und wenn Männer mit Rüstungen und Schwertern in Schlachten ziehen, dazwischen viel von Ehre, Vermächtnis oder Stolz sprechen, dann erinnert das auch immer ein bisschen an «Game of Thrones». Das ist natürlich auch ein ziemlich einfältiger Vergleich – weil diese Geschichte ja zu einer komplett anderen Zeit auf einem komplett anderen Kontinent spielt.
Und trotzdem: Die Allianzen unter den Fronten wechseln oft, Szenenbild und Kostüme sind atemberaubend, die schauspielerischen Leistungen beeindruckend, es wird ein Messer nach dem anderen in diverseste Rücken gerammt (ab und zu metaphorisch, ab und zu wortwörtlich), der «Game of Thrones»-Vergleich stimmt eben doch.
Streamen auf Disney+. Season 2 ist in Produktion.
#5
«Slow Horses», Season 4
Alle Jahre wieder: Apple adaptiert ein weiteres Buch aus der «Slough House»-Serie. Mittlerweile sind wir bei Nummer 4 angekommen («Spook Street»). Es ändert sich einiges, aber irgendwie eben doch nichts. «Slow Horses» bleibt vorzügliche Spy-Action mit einem konstant griesgrämigen Jackson Lamb (Gary Oldman) im Mittelpunkt.
In der vierten Staffel taucht mit Frank Harkness (Hugo Weaving!) ein neuer Bösewicht auf, dem – wie immer – innert sechs Episoden das Handwerk gelegt werden muss. Dafür musste die Serie anderenorts mehr Kritik einstecken als auch schon. Weil die Staffel ein bisschen länger braucht als normal, bis alle Schachfiguren in der richtigen Position sind. Aber wer diese Season am Stück und nicht etwa Woche für Woche schaut, bemerkt davon nichts.
Streamen auf Apple TV+. Season 5 ist in Produktion.
#4
«Ripley»
Steven Zaillian – mit bester Unterstützung der vielen kontrastreichen Schwarzweissbilder von Kameramann Robert Elswit («Boogie Nights», «The Town», «There Will Be Blood») – ist mit seiner Umsetzung der Geschichte von Trickbetrüger Tom Ripley etwas absolut einzigartiges gelungen. Und einzigartig wäre auch gleich das zentrale Schlagwort hier.
Es gibt in der zeitgenössischen Serienlandschaft wirklich gar nichts, das auch nur einigermassen mit dem Look und Feel von «Ripley» mithalten kann. Und das ist hier ja irgendwie besonders ironisch, weil mit «Ripley» die Geschichte des Talented Mr. Ripleys alles andere als zum ersten Mal verfilmt wurde.
Aber gerade darum ist «Ripley» ein hervorragendes Beispiel dafür, dass auch in einem Zeitalter, in welchem man wirklich jede neue Serie (und jeden neuen Film…) an irgendetwas aufhängen muss, das bereits über einen bestimmten Bekanntheitsgrad verfügt (verfügen könnte?), trotzdem noch Platz übrig bleibt, etwas zu kreieren, dass es so noch nie gegeben hat. Und dann verzeiht man sogar den ein oder anderen Misstritt bezüglich Narrative oder Erzähltempo.
Streamen auf Netflix.
#3
«Industry», Season 3
Diese Gruppe hungriger Investmentbanker:innen (u. a. Marisa Abela, Myha’la und Harry Lawtey) arbeitete einst bei der gleichen Firma. Nach unzähligen hinterlistigen Aktionen haben sich ihre Wege mittlerweile getrennt – und trotzdem kreuzen sich diese immer wieder. Auf einer Kreuzfahrt im Mittelmeer, bei welcher Menschen über die Reling stürzen. Oder an einer Wirtschaftskonferenz in Graubünden, bei welcher man once again Messer in Rücken stossen könnte. Oder kann.
«Industry» hält die Goldene Ära der HBO-Dramaserie («The Sopranos», «The Leftovers», «Succession») am Leben. Im Alleingang. Anstatt kurzer Miniserien, die nach wenigen Episoden abgeschlossen werden, trifft man sich hier von Staffel zu Staffel wieder, erweitert den Sandkasten, in welchem diese Serie spielt, wagt sich an neue Schauplätze, oder zieht Experimente auf Episodenlänge durch (Episode #4, «White Mischief» war die beste TV-Episode des Jahres). Sex, Drugs & Aktien – what more do you want?
Streamen auf Sky Show. Season 4 ist in Produktion.
#2
«Say Nothing»
Ungebildete Ignoranten, wie ich es einer bin, wissen zwar, dass das Karfreitagsabkommen am 10.4.1998 grosse Teile des bewaffneten Nordirlandkonflikts beendete, wenn mich allerdings jemand gefragt hätte, was genau in diesem Konflikt wirklich passiert ist, hätte ich nur mit den Schultern zucken können. Hier kommen historische Serien wie «Say Nothing» ins Spiel.
Aber «Say Nothing» ist nicht einfach irgendeine historische Serie, sondern eine der wirklich guten: Hier werden Ereignisse, die tatsächlich passiert sind, rekonstruiert, aber ohne je zu trocken, unnötig erklärerisch oder langweilig zu sein.
Liegt natürlich auch daran, dass man diesen Konflikt, der sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte, an zwei extrem packenden Figuren aufgehängt hat: Zwei Schwestern (Lola Petticrew & Maxine Peake und Hazel Doupe & Helen Behan) die in diesen bewaffneten Widerstand langsam hineingezogen werden, bis sie letztlich selbst Bombenanschläge planen.
Das Meisterstück von «Say Nothing» dürfte jedoch darin liegen, wie exakt richtig die Serie ausgepegelt ist: Ja, wir verbringen viel Zeit mit den «Bösewichten», ihre Taten werden jedoch nie romantisiert.
Streamen auf Disney+.
#1
«Baby Reindeer»
Die beste Serie des Jahres ist auch eine schmerzhafte Erinnerung an all das, was mal hätte sein können. Wisst ihr noch, damals, als man – ähnlich wie in der goldenen Ära des Independent-Films – jungen, aufstrebenden Talenten die Schlüssel in die Hände drückte und ihnen sagte: Mach einfach was du willst?
Entstanden sind – während der letzten Dekade – einzigartige, hyper-persönliche Werke im Episodenformat. «Fleabag», «Master of None», «I May Destroy You». Doch wie bereits eingangs erwähnt: Diese Ära scheint vorbei zu sein. Auch im Serienmarkt zählen nur noch IP oder Fortsetzungen bereits existierender Film-Universen.
Immerhin: Auch dieses Jahr hat es irgendwie doch noch eine Serie dieser Art auf unsere TVs, Smartphones und Tablets geschafft.
Comedian Richard Gadd erzählt in «Baby Reindeer» eine Geschichte, die sich so oder so ähnlich tatsächlich zugetragen hat. Eine Geschichte über Stalking, sexuellen Missbrauch und toxische Männlichkeit. Alles aus der Sichtweise von einer einzigen Person, die während diesen sieben Episoden nicht nur das eigene Schränkli zu leeren versucht, sondern sich auch jederzeit bewusst ist, selten die richtigen Entscheidungen getroffen zu haben.
Das war eindrücklich, mutig, aber vor allem eben auch einfach echt. Etwas, das während den letzten 12 Monaten in der Serienwelt nur sehr selten passiert ist.
Streamen auf Netflix.
Honorable Mentions:
Die 10 besten Serien 2024 alle schon gesehen? Hier wären noch 5 weitere:
- «The Agency», Season 1: Sehr fesselnde Geheimagentenserie mit u. a. Michael Fassbender und Richard Gere, die auf der französischen Serie «Le Bureau des Légendes» basiert. Zum Zeitpunkt der Deadline für diese Liste waren jedoch erst 4 von 10 Episoden ausgestrahlt. (auf Paramount+)
- «The Bear», Season 3: Eine der besten Serien der letzten beiden Jahre verpasst dieses Jahr die Bestenliste. Immer noch gut, aber auch ein klarer Fall von da hat man ein bisschen zu fest Gefallen am Geschmack der eigenen Fürze gefunden. (auf Disney+)
- «Hacks», Season 3: Konstant gute Comedyserie über eine gecancelte Comedienne, die einer alternden Stand-up-Comedienne unter die Arme greift. Staffel 3 war prima, wirkte aber mehr wie ein langes Intro zu Staffel 4. (auf Sky Show)
- «Lioness», Season 2: 1A Spec-Op-Action/Military-Porn. Aus der Feder von Taylor Sheridan, darum hebeln sich Action und Insanity, bei der man bloss mit den Augen rollen kann, immer in etwa aus. (auf Paramount+)
- «Squid Game», Season 2: [Embargo] (ab 26.12. auf Netflix)