Der obligate Rückblick auf ein doch eher enttäuschendes Serienjahr 2023.
Haben wir einen Tiefpunkt erreicht? Gut, daran sind natürlich auch die beiden Hollywood-Streiks «schuld», welche die Traumfabrik für fast ein halbes Jahr – völlig zurecht – lahm gelegt haben und haufenweise Produktionen ins nächste Jahr verschieben liessen.
Das Serien-Business verändert sich aber auch abseits der Streiks.
Seit längerem gilt: Wer sein Projekt vom Papier des Drehbuchs auf den kleinen Bildschirm bringen möchte, braucht die grossen Stars. Und eine Geschichte, die sich bitte kurz zu halten hat. Denn die Stars haben bereits andere Projekte auf ihrer Traktandenliste und keine Zeit, sich sieben Jahre lang 25 Episoden pro Jahr im gleichen Spital/in der gleichen Anwaltskanzlei/auf dem gleichen Polizeiposten vor die immer gleiche Kamera zu stellen.
Vorbei sind die Zeiten, in denen wir uns ein halbes Jahrzehnt lang fragen durften, wie Jack Shephard von der tropischen Insel entkommt, ob Don Draper den Sprung in die 70er-Jahre noch miterleben wird und welche Melodie Omar Little eigentlich genau pfeift. In and Out. Vier, sechs, sieben oder acht Episoden – das war’s.
Für uns Zuschauer:innen hat dieses – nennen wir es britische – Produktionsmodell mittlerweile mehr Nach- als Vorteile. Figuren sind so schnell wieder gegangen, wie sie gekommen sind. Langzeitbeziehungen sind keine mehr erlaubt.
Und wer ausser mir leidet sonst noch an New World Fatigue? Alle zwei Wochen wieder ein komplett neues Serienuniversum, neue Erzählrhythmen und neue Namen, an die man sich zuerst gewöhnen muss. I am tired.
Wohl auch darum fällt die diesjährige Bestenliste noch kürzer aus als letztes Jahr. Die 10 besten Serien 2023:
#10
«Hijack»
Idris Elba fliegt von Dubai nach London. Kurz nach Abflug wird sein Flugzeug von Terrorist:innen gekapert. Jetzt hat Idris Elba (seine Figur heisst zwar Sam Nelson, aber machen wir uns nichts vor: Idris Elba ist Idris Elba) genau sieben Stunden, oder sieben Episoden lang Zeit – also so lange wie der Flug von Dubai nach London dauert – um den Hijacker:innen das Handwerk zu legen.
Ein Thriller direkt aus dem Playbook von «24». Nur dass es hier halt «7» ist. Natürlich stilecht mit praktischen Zufällen und dem einen oder anderen eher unlogischen Moment, aber schlussendlich eben genau so lange wie man sich das wünscht und ohne je unseren Geduldsfaden überzustrapazieren.
streamen auf Apple TV+.
#9
«La Fraternité»
Ich war definitiv viel zu jung, als ich am 6. Oktober 1994 eine Ausgabe des «Blicks» in den Händen hielt und darin eine Grafik entdeckte, in welcher exakt aufgezeigt wurde, wie und wo man die Leichen der insgesamt 48 Mitglieder der Sonnentempler-Sekte entdeckte, die in den Kantonen Fribourg und Wallis durch einen rituellen Massenselbstmord ums Leben kamen. Wohl gerade darum haben sich diese Bilder von damals bei mir für immer eingebrannt.
Während vier Episoden rollt diese exzellent gemachte Dokuserie eines der grössten Verbrechen auf, das in den letzten dreissig Jahren auf Schweizer Boden passiert ist. Mit Testimonials von Überlebenden und ganz viel creepy VHS-Ausschnitten.
Fokussiert sich im vierten Teil vielleicht ein bisschen zu fest auf ein eher ergebnisloses Gerichtsverfahren und plempert gegen Ende ein bisschen aus, aber wenigstens die ersten drei Teile sind garantierte Must-Sees.
streamen auf Play Suisse.
#8
«Beckham»
Zwar ist auch «Beckham» nicht nur eine Dokuserie, sondern mindestens zur Hälfte ein selbstproduziertes Documercial, trotzdem hat diese vierteilige Dokuserie unter dem Strich die besseren Interviewpartner:innen, den besseren Hauptprotagonisten und die besseren Geschichten zu erzählen, als die meisten anderen Projekte ähnlicher Grössenordnung.
Ist es wirklich der ehrliche und echte David Beckham, den wir hier kennen lernen dürfen? Who knows! Trotzdem haben wir am Ende das Gefühl, hinter den auf Hochglanz polierten Interviews, irgendwo zwischen exakt angeordneten Kleiderbügeln und der täglich frischgeputzten Küche, tatsächlich den ehrlichen und echten David Beckham erhascht zu haben. Vielleicht auch nur für einen Moment. Ziel erreicht.
streamen auf Netflix.
#7
«Barry», Season 4
Auftragskiller Barry Berkman (Bill Hader) ist ein Sozio- und Psychopath. Das müsste uns eigentlich schon seit der allerersten Folge der allerersten Staffel klar sein.
Aber weil wir uns trotzdem gerne auf die Seite der Tony Sopranos, Walter Whites und Tony Montanas dieser Welt schlagen, muss Bill Hader erneut zum Unterstrich ansetzen: die Geschichte von Barry, der in der letzten Staffel zuerst aus dem Gefängnis ausbuchten muss, bevor er wieder die internationale Mafia und seine eigene, schwer geplagte Familie terrorisieren kann, darf nicht zu einem Happy End führen. Auf keinen Fall.
Und so ist «Barry» dann auch auf seiner Ehrenrunde (die vierte Staffel ist die letzte) erneut ein herrlich wilder Ritt mit unterschätzten Action-Setpieces, einem absolut waghalsigen Zeitsprung und dem gewohnt pechschwarzen Humor schnurstracks Richtung Abgrund.
Für alle, welche die «Better Call Saul»-grosse Lücke in ihrem Leben füllen möchten.
streamen auf Sky Show.
#6
«Beef»
Als sich Danny (Steven Yeun) und Amy (Ali Wong) auf einem Parkplatz vor einem Einkaufszentrum in die Haare bekommen und noch bevor sie versuchen werden, sich ihr Leben gegenseitig zur Hölle zu machen, haben sie ausser ihrer koreanischen Herkunft eigentlich kaum Gemeinsamkeiten: Andere Jobs, anderer Lebensstandard, unterschiedlich grosse Bankkonten.
Trotzdem zeigen sich während den nächsten zehn Episoden ganz viele Parallelen auf: Beide leben in Los Angeles, der Hölle auf Erden, beide arbeiten in unterschiedlich lukrativen Dead-End-Jobs, beide sind zutiefst unglücklich – und wahrscheinlich gerade darum von der Idee dieses gegenseitigen Rachefeldzugs so angetan.
Ein hervorragendes Portrait über die stark grassierende Unzufriedenheit in unserer Gesellschaft. Und die Smashing Pumpkins-Klassiker im Soundtrack sind natürlich auch nicht ohne.
streamen auf Netflix.
#5
«100 Foot Wave», Season 2
Der australische Big-Wave-Surfer Garrett McNamara macht die portugiesische Küstenstadt Nazaré zum Surf-Hotspot. Das war Staffel 1.
Jetzt kommt Staffel 2 und die Zeit nach dem grossen Hype. Und auch an McNamara nagt der Zahn der Zeit. Trotz seiner unbändigen Liebe zum Surfsport fangen seine Knochen mittlerweile schon beim blossen Anblick einer kleinen Welle an, auseinander zu fallen.
«100 Foot Wave» zeigt Extremsportler:innen, die mit der eigenen Mortalität konfrontiert werden – erneut verpackt in triumphale und zum Teil überwältigende Bilder, angereichert mit majestätischer Musik von Philip Glass. Das kann man sich vom trockenen Sofa aus anschauen und hat trotzdem ein Bedürfnis, nach jeder Episode das Meersalz aus den Haaren waschen zu wollen.
Season 3 ist in Produktion für 2024.
#4
«The Last of Us», Season 1
2023, oder: der Hollywood-Blockbuster am Scheideweg. Das Superheld:innen-Genre scheint an seinem vorläufigen Ende angekommen zu sein. Da reicht bereits ein Blick auf die Zuschauer:innenzahlen in den Schweizer Kinos: «Avengers: Endgame» (2019), 495’569 verkaufte Tickets. «The Marvels» (2023), 38’764 verkaufte Tickets. Uff.
Jetzt müssen es also die Game-Adaptationen richten.
Und glücklicherweise zeigt «The Last of Us» da, dass das auch um einiges abenteuerlicher als in Dienst-nach-Vorschrift-Markenverwaltungsprojekten wie «The Super Mario Bros. Movie»-Film oder «Five Nights at Freddy’s» geht.
Eine Zombie-Serie, die nicht nur mit seinen tiefgründigen Figuren und seiner mutigen Machart glänzt, sondern dem ganzen «Walking Dead»-Universum spätestens mit der dritten Episode bereits komplett den Rang abgelaufen hat.
Streamen auf Sky Show. Season 2 ist in Produktion für 2025.
#3
«How to With John Wilson», Season 3
Sechs weitere Liebesbriefe von John Wilson an «sein» New York, aufgemacht als 30-minütige Kurzdokus.
Bringt uns die unförmigsten Zahnräder einer einzigartigen Metropole mit einer bewundernswerten und bezaubernden Neugierde näher, ohne diese je blossstellen zu wollen.
Vom Ohrenarzt, der uns aufzeigt wie man seine Ohren richtig säubert, über das umgebaute Raketen-Silo eines Doomsday Preppers, bis zum «stolzen» Instruktor eines 9/11-Terroristen: Wilson rückt jene Menschen und ihre Geschichten in den Mittelpunkt, die man viel öfter zu sehen bekommen sollte. Da hätte man gerne noch zehn weitere Staffeln davon gesehen.
#2
«The Bear», Season 2
Das erste Argument, wieso die derzeitige One-and-Done-Miniserien-Kultur eine ungesunde für das allgemeine Serienklima ist. «The Bear», Staffel 1 war ein Überraschungshit aus dem nichts. Nicht getragen von Starpower, sondern umgekehrt: Schauspieler:innen, die so brillieren, dass sie wegen der Serie zu Stars werden. Es kann kein Zufall sein, warum wir Jeremy Allen White (Carmy) und Ayo Edebiri (Sydney) gerade in jeder zweiten Filmproduktion zu sehen bekommen.
Aber zurück zu «The Bear»: ein Jahr später, zehn neue Episoden. Die Sandwichbude aus Staffel 1 soll innert kürzester Zeit zum Gourmet-Hotspot umgebaut werden, das Arbeitsfeld «Küche» bleibt ein stressiges Minenfeld.
Dank der ersten Staffel wissen die Macher:innen ihrer Serie nun ganz genau wie der Hase läuft. Sie kennen ihre Figuren, sie wissen was funktioniert und was nicht – und können jetzt darauf aufbauen.
Mit und dank dieser Selbstsicherheit ist die 2. Staffel tatsächlich noch besser als die erste. Formell erfinderischer und wagemutiger mit Experimenten, die vielleicht nicht alle klappen, aber wenn sie es tun (Stichwort: Kopenhagen, «Forks»), dann so richtig.
Das Versprechen gilt nach wie vor: Wer hier einmal anfängt zu bingen, kann so schnell nicht wieder aufhören.
Streamen auf Disney+. Season 3 ist in Produktion für 2024.
#1
«Succession», Season 4
Die TV-Serie als Langzeitstudie, das zweite Pro-Argument: vier Jahre lang haben wir Familie Roy und ihren Fight um das Imperium ihres Oberhaupts aus jedem erdenklichen Blickwinkel studieren dürfen. Vier Jahre lang lagen diese vielschichtigen Figuren unter dem Mikroskop.
Die Überraschungen dieses gewaltigen Machtkampfs konnten aber auch in der vierten und letzten Staffel wieder mit gewaltiger Wucht landen.
Ein letztes Mal Zähne zusammenbeissen, wenn Roman Roy (Kieran Culkin) seine Unsicherheit mit peinlichen Gockeleien zu kaschieren versucht. Ein letztes Mal Zeuge von Kendall Roys (Jeremy Strong) unaufhaltbaren, shakespearischen Untergangs werden. Ein letztes Mal Schlagwörter auf X (vormals Twitter) und Reddit auf die Blockierliste nehmen, damit man am Montagmorgen nicht versehentlich in Spoiler reinläuft. Ein letztes Mal schon am Montagmittag auf den Abend hinfiebern, weil eine neue Folge ansteht – und gleich anschliessend drei verschiedene Podcast-Folgen dazu verschlingen.
Ich mag keiner Figur dieser Serie etwas Gutes gönnen. Und trotzdem: I will miss it.
Streamen auf Sky Show.
Honorable Mentions:
- «American Manhunt: The Boston Marathon Bombings»: Eine dreiteilige Dokuserie über den Anschlag am Boston Marathon mit viel faszinierender Detektivarbeit und einem spektakulären Sprint quer über das Grundstück einer Tankstelle. (auf Netflix)
- «Boiling Point»: Die vierteilige Fortsetzung des gleichnamigen Films, die beweist, dass es in diesem Universum Platz für weitere Geschichten hat. Für alle, die mit «The Bear» bereits durch sind. (auf BBC)
- «Copenhagen Cowboy»: Eine absolut einzigartige und komplett wilde Crime-Serie von Nicolas Winding Refn («Drive», «The Neon Demon»), die wirklich keine Kompromisse eingehen und uns Zuschauer:innen keinen Millimeter entgegen kommen möchte. (auf Netflix)
- «Dead Ringers»: Ein Remake des David Cronenberg-Films mit einer spektakulären Rachel Weisz in einer Doppelrolle und prächtiger Kameraarbeit. Leider konnte das Drehbuch nicht immer ganz mithalten. (auf Prime Video)
- «Fargo», Season 5: Je nachdem, wie sich der Rest dieser Comeback-Staffel entwickelt, durchaus auch ein Kandidat für die Top 10-Liste. Jon Hamm und Juno Temple («Ted Lasso») mit grossartiger Arbeit. Lässt einem sogar die schlimme vierte Staffel vergessen.
- «The Gold», Season 1: Crime-Serie über einen der spektakulärsten Goldraube der britischen Geschichte. Passiert in den 80er-Jahren, die Spuren führen bis nach Liechtenstein. Sechs Episoden – mindestens doppelt so viele Twists. (auf Paramount+)
- «I’m A Virgo»: Von Boots Riley («Sorry to Bother You»). Eine imperfekte Serie, die man trotzdem gerne schaut, weil sie so verdammt idiosynkratisch ist und man sich mit jeder Folge wieder aufs Neue fragen muss: Hat ihm da niemand auf die Finger geschaut? (auf Prime Video)
- «The Other Two», Season 3: Im Stile von «30 Rock». Die vielleicht lustigste Serie des Jahres. Wenn die Jokes landen, dann landen sie.
- «Party Down», Season 3: Die andere lustigste Serie des Jahres. Zeigt, dass Serien-Revivals auch gut sein können.
- «Reservation Dogs», Season 3: Vielleicht nicht ganz auf dem Level der ersten beiden Staffeln, aber immerhin mit einer der fünf besten Episoden, welche dieses Jahr – über alle Serien weg – ausgestrahlt wurden. (auf Disney+)