Von «Aftersun» bis «TÁR», von Batman bis Tom Cruise: der alljährliche Rückblick auf ein aufregendes Kino- und Streamingjahr mit den 20 besten Filmen 2022.
246 Filme standen für diese Liste zur Auswahl, welche 2022 veröffentlicht wurden und ich dieses Jahr sehen durfte. Das sind rund 50 mehr als letztes Jahr und 100 mehr als 2020. Die Filmindustrie scheint – allen Wehen zum Trotz – langsam aber sicher aus der unfreiwilligen Corona-Produktionspause aufzuwachen.
In meinen Bubbles stelle ich jedoch fest, dass die derzeitige Motivation für einen Kinobesuch so low wie noch nie zuvor ist. Klar, der Erfolg von «Top Gun: Maverick» zeigt, dass ein Besuch bei der grossen Leinwand noch immer eine valable Freizeitoption darstellt – aber nur wenn garantiert Spektakel geboten wird.
«Cate Blanchett krönt ihre Karriere mit einer Performance auf Lionel-Messi-Level» hätte vor fünf oder zehn Jahren definitiv mehr Hinterteile in einen Kinositz bewegt als heute. Das stark filminteressierte Publikum existiert noch immer – sieht man ja auch am grossen Erfolg der diesjährigen ZFF-Ausgabe –, aber der grosse Rest schaut offensichtlich lieber Serien. Zuhause.
Oh well! Da ich nicht in der Filmindustrie arbeite, sind mir die Hände diesbezüglich eh gebunden. Ausser natürlich, dass ich so oft wie möglich auf sehenswerte Filme aufmerksam machen kann. Let’s go!
Es folgt die Liste der 20 besten Filme 2022. Die ganze Liste mit allen 246 Filmen im Ranking, die ich dieses Jahr gesehen habe*, gibt’s wie immer drüben auf Letterboxd. (Ja, dort sieht man auch, welcher Film auf dem ehrenvollen 246. Rang gelandet ist.)
*=an dieser Stelle der alljährliche Disclaimer, dass es ein paar Filme gibt, die ich leider nicht sehen konnte. ABER: ausser «Babylon» und «Women Talking» habe ich dieses Jahr glaubs fast alles gesehen, über das an anderen Orten gesprochen wird. Eine bessere Quote als auch schon.
#20
«Nope»
dir. Jordan Peele
Ein hervorragender Film über unsere ungesunde Lust dort hinschauen zu wollen, wo wir eigentlich nicht hinschauen sollten. Und über unser Bedürfnis, verbotene Dinge für die Ewigkeit festhalten zu wollen.
In unserer Gesellschaft gilt «Pics or it didn’t happen», also gehen wir zusammen mit Daniel Kaluuya bis ganz an den Rand einer metaphorischen Klippe um das perfekte Selfie zu schiessen – obwohl mit jedem Schritt Richtung Abgrund die Wahrscheinlichkeit grösser wird, herunterzustürzen.
Ich weiss noch nicht ganz, was ich davon halten soll, dass Jordan Peele («Get Out», «Us») inhaltlich von Film zu Film esoterischer zu werden scheint (hier gibt es zum ersten Mal einzelne Plotpunkte von denen ich auch nach zwei Screenings nicht richtig weiss, wo und wie sie einzuordnen sind). Dass er auf der visuellen Ebene jedes Mal ein bisschen mehr dazuzulernen scheint, ist jedoch eine grosse Freude: die Bilder, die er zusammen mit Kamermann Hoyte van Hoytema («Her», «Interstellar», «Dunkirk») hier eingefangen hat, sind Madness pur.
Auf VOD.
#19
«Tori et Lokita»
dir. Luc & Jean-Pierre Dardenne
Tori und Lokita sind zwei junge Menschen aus Benin, die über das Mittelmeer «rechtswidrig» nach Belgien gekommen sind. Während Tori eine Aufenthaltsbewilligung erhält, wird Lokita diese verweigert, da sie ohne Papiere nicht den definitiven Beweis erbringen kann, dass Tori tatsächlich ihr Bruder ist. Natürlich erhält Lokita so auch keine Arbeitsbewilligung, was sie schlussendlich in die Kriminalität zwingt.
Ein unerbittlicher und erbarmungsloser Film, der im typischen Dardenne-Stil keinerlei Umstände unternimmt, die bittere Realität beschönigen zu wollen. Comic Relief und ein Happy End sucht man hier vergebens.
CH-Kinostart: 2. Februar 2023
#18
«Navalny»
dir. Daniel Roher
Ein Dokumentarfilm über eine nicht unumstrittene Person, der sein Sujet trotz unlimitiertem Zugang nicht als unfehlbaren Heiligen darstellen möchte. (Natürlich hat man als Dokumentarfilmer:in auch nicht immer das, äh, Glück, dass während den Dreharbeiten ein Mordanschlag auf seine Hauptfigur stattfindet.)
Enthält die wohl beste «What the fuck!?!»-Sequenz eines 2022 veröffentlichten Dokumentarfilms.
Auf Cinefile & MyFilm.
#17
«An Cailín Ciúin»
dir. Colm Bairéad
Ein zartes und sanftmütiges Portrait über ein neunjähriges Mädchen aus unglücklichen Familienverhältnissen im Irland der 80er-Jahre.
Ähnlich wie Céline Sciammas leise grossartiger Film «Petite Maman» (siehe: die besten Filme 2021) ist auch Colm Bairéads Spielfilmdebüt ein Werk, dessen ganze Pracht sich erst mit seiner allerletzten Szene entfaltet: Während den ersten 85 Minuten steht man hier ganz nahe an einem Gemälde irgendwo im Museum und schätzt die feinen Details. Dass dieses Gemälde in Wirklichkeit mehrere Meter breit ist, merkt erst, wer sich zum Schluss getraut, ein paar Schritte rückwärts zu machen.
CH-Kinostart: tba
#16
«Blue Jean»
dir. Georgia Oakley
Auch dieses Jahr gab es am «Zurich Film Festival» wieder exquisite Entdeckungen, die ich im Rahmen der drei Wettbewerbe machen durfte.
Der wohl schönste Zufallsfund («Aftersun» lief zwar ebenfalls im Wettbewerb, kam aber bereits mit vielen Vorschusslorbeeren aus Cannes) war Georgia Oakleys Debütfilm über queere Liebe im England unter Margaret Thatcher.
Nicht zuletzt dank seinen ästhetischen 16mm-Aufnahmen und punktgenau zurückhaltenden schauspielerischen Leistungen erhielt dieser Film vor kurzem auch 13 Nominierungen an den «British Independent Film Awards». Nur für einen Film gabs noch mehr Nominierungen: Genau, «Aftersun».
CH-Kinostart: tba
#15
«Un beau matin»
dir. Mia Hansen-Løve
Mia Hansen-Løves neuster Film (nach «Bergman Island», meiner #5 2021) erzählt zwei Geschichten: eine über eine Mutter einer 8-jährigen Tochter, die sich zu lange damit abgefunden hat «nur noch» eine Mutter einer Tochter zu sein, und eine andere über einen Vater, der das wichtigste in seinem Leben verloren hat: sein Gedächtnis.
Und natürlich werden Geschichten dieser Art ständig erzählt, letztere oftmals schlecht als recht, trotzdem findet Hansen-Løve – einmal mehr – einen persönlichen und idiosynkratischen Zugang zu diesen Allerweltsthemen. Nobody does it like her.
Derzeit im Kino.
#14
«The Fabelmans»
dir. Steven Spielberg
Die Pandemie, gepaart mit den wirtschaftlich unsicheren Zeiten, die das kommerzielle Kino derzeit durchmacht, scheint bei vielen Regisseur:innen Torschlusspanik ausgelöst zu haben. Warum sonst würde die Frage «Wenn du nur noch einen einzigen Film machen könntest…?» bei so vielen Filmemachenden ein Bedürfnis auslösen, die eigene Ursprungsgeschichte auf die grosse Leinwand zu bringen?
«The Fabelmans» ist Steven Spielbergs hervorragender Film über die eigentlich simple Erkenntnis, dass hinter den eigenen, oftmals sehr «abstrakt» und «unkompliziert» wirkenden Elternfiguren auch «richtige» Menschen mit eigenen Gefühlen und Problemen stehen.
Ein langer, aber sehr persönlicher Film, der sich zu keinem Zeitpunkt wie eine selbstbeweihräuchernde Nabelschau anfühlt.
CH-Kinostart: 9. März 2023
#13
«Broker»
dir. Hirokazu Kore-eda
Babys werden aus einer Babyklappe geklaut und anschliessend Paaren mit unerfülltem Kinderwunsch verkauft!!
Was nach einem High-Stakes-Thriller klingt, entwickelt sich im Laufe dieses Films zu einem berührenden und zotteligen Roadmovie, in dessen Mittelpunkt Kore-eda eine unfreiwillig zusammengewürfelte Ersatzfamilie stellt. Der klapprige Van dürfte bei den einen oder anderen sogar tief verborgene «Little Miss Sunshine»-Vibes wecken.
Derzeit im Kino.
#12
«Men»
dir. Alex Garland
Alex Garlands («Ex-Machina», «Annihilation») offensichtlich aneckender Thriller über eine Frau, die sich nach einer Tragödie im persönlichen Umfeld eine Auszeit in einem Airbnb auf dem Land gönnen möchte, dort aber von der – ausschliesslich männlichen – Dorfbewohnerschaft einfach nicht in Ruhe gelassen wird, ist definitiv kein subtiler Film.
Gottseidank ist «Men» aber nicht wirklich daran interessiert, deine Fähigkeiten zu prüfen, wie gut du darin bist Metaphern zu erkennen. Stattdessen zeigt Garland – so wie das in den guten Horrorfilmen gemacht wird – wie schnell aus einer unscheinbaren Alltagssituation literally ein Albtraumszenario entsteht.
Ein nervenaufreibender Film mit einem truly verstörenden Ende, der auch auf technischer Ebene zu überzeugen weiss: Shout-out an die Filmmusik (kommt – wie immer bei Garland – von Ben Salisbury und Geoff Barrow von Portishead) und das wortwörtlich nachhallende Sounddesign.
Auf VOD.
#11
«Drii Winter»
dir. Michael Koch
Der beste Schweizer Spielfilm des Jahres erzählt die Geschichte von Marco, Landwirt und Anna, Bardame und Postbotin deren bergisches Idyll gleich mehrfach auf die Probe gestellt wird.
Protagonist:innen, die schweizerischer nicht sein könnten, in einem überraschend unschweizerischen Film. Denn hier werden für einmal weder Bauernhöfe noch Dorflädeli gerettet.
Derzeit im Kino.
#10
«Elvis»
dir. Baz Luhrmann
Rang 10 scheint die richtige Platzierung für den gleichzeitig besten und schlechtesten Film des Jahres zu sein.
Ein Film der Sequenzen enthält, die ich so noch nie gesehen habe (Elvis› ganze Hollywood-Karriere wird in einer Montage abgewickelt, in welcher seine Hits mit Songs der Backstreet Boys oder Britney Spears gekreuzt werden) und so nie wieder sehen will (Tom Hanks in zweifelhaftem Old-Age-Makeup, der in hohem Alter ziellos durch Casinos stapft). Auf jeden «Holy Shit»-Moment folgt Sekunden später eine «Absolutely not»-Szene – und das im Minutentakt… also eigentlich das völlige Normalprogramm für einen Film von Baz Luhrmann («The Great Gatsby», «Romeo + Juliet», «Moulin Rouge»).
Am Ende bleibt einem nichts anderes übrig, als von der schieren Dreistigkeit den Hut zu ziehen. Ein Film, der das unmögliche möglich macht und dieser überlebensgrossen Figur «Elvis» tatsächlich gerecht wird. Auch dank einem wirklich eindrücklichen Austin Butler, dem man – im Gegensatz zu Rami Malek – ohne Protest meinerseits den Oscar geben könnte.
Auf VOD.
#9
«Le otto montagne»
dir. Felix van Groeningen & Charlotte Vandermeersch
Ein gefühlvolles Stück Poesie über Männerfreundschaften, welches sogar dem grössten Wandermuffel der Welt (Hey, it’s me!) die Berge schmackhaft macht. Boys, it’s OK to cry.
(Und nein, mein Enthusiasmus hängt nicht damit zusammen, dass eine der beiden Hauptfiguren Bruno heisst.)
CH-Kinostart: 5. Januar 2023
#8
«Armageddon Time»
dir. James Gray
Ein weiterer «Ahhh, meine Kindheit! 🥰»-Film, der sich bei näherer Betrachtung ziemlich schnell als ein «Holy Shit, habe ich viele Privilegien genossen!!! 😰»-Mea Culpa entpuppt.
James Gray («Ad Astra», «The Immigrant») legt für seinen ultrapersönlichen Blick ins eigene Fotoalbum die rosarote Brille ab und wagt sich auf eine nicht unproblematische Gratwanderung durch das steinige Gebirge der Privilegien und des Rassismus.
Dass solche Dinge heutzutage lieber still ignoriert werden, zeigt sich alleine schon dadurch, dass die diesjährigen ZFF-Screenings die wohl einzigen Schweizer Vorführungen dieses Films bleiben werden.
Komisch ausserdem, dass für die vielleicht zweitbeste schauspielerische Leistung des Jahres (Anthony Hopkins) keinerlei «Awards-Buzz» zu existieren scheint.
CH-Kinostart: tba
#7
«Top Gun: Maverick»
dir. Joseph Kosinski
Ungefähr in der Hälfte des ersten Drittels von «Top Gun: Maverick» tritt Tom Cruise, der – aus Gründen, die unter dem Mikroskop betrachtet wohl nicht wirklich standhalten würden – einmal mehr Ausbildner in der anscheinend weltbesten Schule für Militärpilot:innen sein darf, vor seine Schüler:innen und zeigt ihnen die baumstammdicke Betriebsanleitung ihres Fighterjets.
Und noch bevor er diese Betriebsanleitung in die Mülltonne werfen kann… wissen wir Zuschauer:innen bereits, dass er jetzt dann gleich die Betriebsanleitung in die Mülltonne werfen wird. Trotzdem fühlt sich dieser Moment absolut triumphal an, wenn er dann tatsächlich passiert. Das ist «Top Gun: Maverick», auf den Punkt gebracht.
Hier erwartet dich keine von einem Spitzenkoch zubereitete, kulinarische 11-Gang Reise mit Aromen, die du noch nie schmecken durftest, sondern einfach nur eine Pizza Margherita.
Allerdings ist es die beste Pizza Margherita, die du je gegessen hast.
Bevor du sie serviert bekommst, denkst du vielleicht «Bro, es ist eine Pizza Margherita, wie gut kann das wirklich sein?» aber sobald du den ersten Bissen nimmst, wirst du feststellen, dass Tom Cruise, der letzte verbliebene Hollywood-Star, tatsächlich alles berücksichtigt hat, was zum meisterhaften Margherita-Erlebnis gehört.
Er hat sogar die Abstände zwischen den einzelnen Mozzarella-Stückchen mit einem Lineal abgemessen, damit es wirklich zum perfekten Geschmackserlebnis kommen kann.
Auf Paramount+ oder vod.
#6
«L‘événement»
dir. Audrey Diwan
Frankreich, 1963: Wird eine Studentin schwanger, muss sie ihr Studium abbrechen.
«L’événement», basierend auf einem Roman der frischgebackenen Nobelpreisträgerin Annie Ernaux, zeigt was passiert, wenn die blitzgescheite Studentin Anne trotz ungewollter Schwangerschaft weiter studieren möchte – und einen zu dieser Zeit gesetzlich verbotenen Schwangerschaftsabbruch ersucht. Ein leider unangenehm aktueller Film.
Glücklicherweise wird diese heavy Geschichte aber nicht nur sachlich und tatsachengetreu erzählt, sondern von Audrey Diwan auch wie ein Thriller inszeniert. Denn die Uhr tickt erbarmungslos gegen Anne – schliesslich lassen sich körperliche Veränderungen, die während einer Schwangerschaft passieren, nur bis zu einem gewissen Zeitpunkt verheimlichen…
Auf Cinefile & MyFilm.
#5
«The Batman»
dir. Matt Reeves
Modernes Blockbuster-Filmmachen heisst: du bist Ingenieur eines trojanischen Pferds.
Du möchtest also einen gritty 90er-Jahre, Fincher-inspirierten Detektivthriller machen? Kein Problem. Solange deine Hauptfigur Batman heisst, hast du eigentlich freie Hand.
Matt Reeves› «The Batman» ist mit weltweiten Einnahmen von knapp 800 Millionen US-Dollar – Stand 26.12.2022 – der sechsterfolgreichste Film des Jahres. Und das obwohl der – meiner Meinung nach – beste Blockbuster des Jahres ein dreistündiger, pechschwarzer Crime-Thriller ist, dessen Action-Szenen man an einer Hand abzählen kann.
Wer aufgrund einer Marvel-Übersättigung automatisch den Kopf schüttelt, sobald Capes oder Spandex auftauchen, sollte es hier nochmals versuchen. Denn «The Batman» ist – mit Ausnahme von Batman – kein Superheldenfilm und hat kaum etwas mit langweiliger Verwaltung einer Fliessband-Unterhaltungsmarke zu tun.
Von «Jesus Christ, 3 Stunden fucking Superhelden, pls kill me» bis zu «Oh… Moment… hat Matt Reeves etwa einen richtigen Film gemacht?» dauerte es bei meinem Screening jedenfalls nur etwa 3 Minuten und 1 Sekunde.
Auf SKY Show oder VOD.
#4
«Decision to Leave»
dir. Park Chan-wook
«Decision to Leave» ist das beste Argument dafür, wieso ein:e Meisterregisseur:in einen Film immer besser machen kann.
Denn in den Händen einer:s weniger talentierten Regisseur:in wäre dieser Krimi über einen Detektiv mit Schlafproblemen, der sich in eine Delinquentin verliebt, die allegedly ihren Ehemann umgebracht hat, wohl ein durchaus sehenswerter 08/15-Krimi.
Aber weil hier Park Chan-wook («Oldboy», «The Handmaiden») hinter der Kamera steht, ist eben jeder Shot ein Vielfaches besser und kreativer als er es eigentlich sein müsste.
CH-Kinostart: 19. Januar 2023
#3
«Aftersun»
dir. Charlotte Wells
Sehr viele Filmemacherinnen und Filmemacher versuchten sich dieses Jahr an selbsttherapeutischer Vergangenheitsbewältigung. Nirgendwo klappte das so gut wie in diesem wirklich beachtlichen Regiedebüt von Charlotte Wells.
Dafür durchlebt die schottische Regisseurin einen prägenden Urlaub ihrer Kindheit ein zweites Mal – und verbringt als 11-jährige Sophie eine Woche Hotelferien in der Türkei, zusammen mit ihrem jungend Dad Paul Mescal (Letztes Jahr «The Lost Daughter», dieses Jahr «Aftersun» und «God’s Creatures», was für ein Händchen dieser Junge hat!).
«Aftersun» ist ein verschwiegenes, aber unglaublich scharf beobachtetes Erinnerungsstück, welches sich mit seinem dominierenden hoş rahatlık-Vibe (heisst anscheinend «Dolce far Niente» auf türkisch, ohne Gewähr) anfühlt wie ein gemütlicher Nachmittag Nichtstun am Hotelpool, oder ein unaufgeregter Tagesausflug zu den lokalen Ruinen – während man erst am Ende des Tages bemerkt, dass in der Zwischenzeit ins Hotelzimmer eingebrochen wurde.
Zweifelsohne der Film mit den besten Needle-Drops des Jahres. Wer aus dem Kino läuft und nicht sofort «Under Pressure», «Tender» oder «Tubthumping» hören möchte… das sind wahrscheinlich die gleichen, die als Kinder nicht gerne Glacé hatten, oder?
CH-Kinostart: 23. Februar 2023
#2
«Bardo, Falsa crónica de unas cuantas verdades»
dir. Alejandro González Iñárritu
Als wir Alejandro G. Iñárritu zum letzten Mal gesehen haben, stand er auf der Oscar-Bühne und nahm dort als erster Regisseur seit Joseph Mankiewicz (1950 & 1951) back-to-back Academy Awards für die beste Regiearbeit des Jahres entgegen («Birdman» & «The Revenant»).
Doch wer ganz oben angekommen ist, dem bleibt nur noch der Blick Richtung Abgrund. Also nimmt uns einer der prägenden, wenn auch umstrittensten Auteurs seit der Jahrtausendwende («Babel», «Biutiful», «21 Grams», «Amores Perros») sechs Jahre später auf eine von Selbstzweifeln durchtränkte Sinnsuche mit.
Für dieses visuell absolut umwerfende Meisterwerk unternimmt der erfolgreiche Journalist Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho) einen Trip zurück in seine Heimat Mexiko. Eine Heimat, die er bloss bruchstückhaft wiedererkennt. Eine Heimat, in der niemand auf ihn gewartet hat. Eine Heimat, die eigentlich gar keine Heimat mehr ist.
«Bardo» ist Iñárritus offener Dialog über (künstlerische) Identität, darüber ob unsere Erinnerungen tatsächlich passiert sind, oder ob wir uns das in der Zwischenzeit alles nur schön zurechtgelegt haben, und packt – so wie das die allerbesten Filme halt tun – die grosse Gretchenfrage an: Sind alle Erfolge, die ich in meinem Leben erreicht habe, das Werk eines Hochstaplers?
Natürlich braucht es da ein gewisses Mass an Selbstüberzeugung, dass man die Öffentlichkeit überhaupt an einer solchen Therapiestunde teilnehmen lassen möchte, aber isn’t this what cinema is all about?
Auf Netflix.
#1
«TÁR»
dir. Todd Field
Todd Fields erster Film seit 16 Jahren («Little Children») ist ein Film über eine Dirigentin. Ein Film über eine fiktive (or is she?) Person namens Lydia Tár, die eine absolute Meisterin ihres Fachs ist. Ein Film über ein geplagtes Genie, deren Fähigkeiten und Intellekt einfach so viel grösser als von den anderen Banaus:innen und Nichtskönner:innen sind, mit denen sich Lydia Tár Tag für Tag herumschlagen muss.
Ach, und, Lydia Tár is about to be cancelled.
«TÁR», eine minutiös durchgeplante und beispiellos vielschichtige Charakterstudie, war der mit Abstand beste Film des Jahres. Ein Film, der jede:n auf der Strecke lässt, der oder die eine Sekunde lang nicht aufpasst. Ein Film, der keinerlei Rücksicht nimmt.
Vor allem ist «TÁR» aber auch ein Film über – yikes – Cancel Culture, der sich aber dermassen nuanciert und clever in diese Debatte einklinkt, dass man sie nach «TÁR» eigentlich für beendet erklären müsste.
Ein Film, der mich nicht mehr losgelassen hat, seit ich ihn auf Anns Beamer schauen durfte. Auch dank Cate Blanchett, natürlich, welche meine persönliche Gewinnerin dieses Filmjahrs sein dürfte.
Eine Antwort auf „Die 20 besten Filme 2022“
[…] (alle von Männern, Ergänzungen von Filmlisten von FINTA* sind erwünscht): Marco Albini / Luca Bruno / Jared Gilman / Alan Mattli / Alex Matzkeit / Nicolas Nater / Lorenz Ruesch / Christoph Schelb / […]